Wenn alles vorbei ist

Kehrt die Normalität möglicherweise schneller zurück, als unser Geist folgen kann?
Wird die postpandemische Gesellschaft nicht wiederzuerkennen sein?

FAZ-Feuilleton 14.05.2021, von Elena Witzeck

An einem Frühlingsabend trennt sich eine junge Frau mit einem Klick von ihren Geburtstagsgästen. Als sie den Vorhang, Symbol des digitalen Feierabends, über den Flachbildschirm gleiten lässt, überkommt sie ein Lächeln bei dem Gedanken an Zeiten, in denen eine Feier mit dem Aufräumen der Küche endete. Auf dem Wohnzimmerparkett verteilt liegen noch die Geschenkkartons des Lieferservice, den ihre Freunde beauftragt haben. Ein letztes Mal tritt die junge Frau hinaus auf den Balkon. Die Kreuzung unter ihr ist wieder angenehm leer, sie kann das Spiel des Windes in den Bäumen hören. Am Fluss geht ein Paar spazieren. In ihrem Bewusstsein blitzt die Erinnerung an ein lang vergessenes Fest auf, das ihre Eltern in diesen Zimmern ausrichteten. Zwanzig Menschen, die nur eine Toilette benutzten. Sie erschaudert.

Die junge Frau, die in der Pandemie erwachsen wurde, ist Produkt unserer Fantasie. Wir übertreiben ein wenig. Aber seit das Ende der unmittelbaren Virusbedrohung greifbarer wird, mehren sich die Fragen nach dem Danach, die Überlegungen, in welcher Hinsicht das Erlebte fortwirken und das Zusammenleben dauerhaft verändern wird. Die Neugier auf die Länder, die von der Rückkehr zur Normalität berichten konnten, war groß: Als sich im Dezember vor den Filialen der Luxusmarken in Wuhan Schlangen bildeten, als in Neuseeland die Kinos wieder öffneten und Australien Konzerte und Sportereignisse ausrichtete. Gebeugt über die Berichte von riesigen Partys in Israel saß manch ein Deutscher und las, ohne zu verstehen. War das ein Rückblick in die Vergangenheit? Die Vorstellungskraft der Gegenwart ließ es nicht zu.

Unsere Psyche als Leistungssportler

Vielleicht hilft ein Blick auf eine der am stärksten optimierten Berufsgruppen unserer Gegenwart. Für einen Leistungssportler gehört eine Verletzung zu den größten Sorgen des Alltags. Seinen körperlichen Schaden auf die Versehrung der Corona-geschädigten Gesellschaft zu übertragen mag etwas fernliegend scheinen. Aber der Zeitraum, der in der modernen Therapie auf den Umgang mit der Verletzung im Kopf eines Profisportlers verwendet wird, geht weit über die körperliche Wiederherstellung hinaus. „Der Kontrollverlust dauert fort“, sagt der sportpsychologische Experte Andreas Meyer. Therapeuten wie er sprechen von Selbstwirksamkeit, wenn es um das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen geht. Je weniger Kontrolle, desto mehr leidet die Selbstwirksamkeit. Wenn das Training dann wiederaufgenommen wird, beginnt mitunter erst das große Zweifeln, die Sorge vor der nächsten Verletzung, dem nächsten Zweikampf, dem Druck. Vermeidungsstrategien schleichen sich ein.

Therapeuten erarbeiten mit ihren Leistungssportlern eine regelrechte Traumatherapie: Sie sollen sich den Moment des Zusammenbruchs vorstellen, sich an Gerüche, Geräusche und Details erinnern und das Geschehen dann so anpassen, als wäre noch einmal alles gut gegangen. Und dann dürfen sie dem Mannschaftsgefüge nicht ganz abhandenkommen, brauchen den Kontakt zu den Kameraden, um ihre eigene Stellung zu sichern. Mit ihrem Reha-Plan gewinnen Profisportler Woche für Woche Kontrolle zurück. Für den gesellschaftlichen Reha-Plan nach der Pandemie war bislang weder Zeit noch Kraft.

Das Marktforschungsunternehmen Ipsos hat im Februar und März dieses Jahres 21 000 Menschen in dreißig Ländern gefragt, ob eine Rückkehr in die Normalität innerhalb eines halben Jahres für sie vorstellbar sei. Weniger als ein Viertel der Befragten glaubte daran. Acht Prozent der sechzehn bis vierundsiebzig Jahre alten Teilnehmer gaben die Antwort, das Leben werde nie wieder so „normal“ wie in präpandemischen Zeiten. Besonders groß waren die Zweifel in Japan, Südkorea und europäischen Ländern wie Italien und Frankreich. Spricht man mit deutschen Jugendlichen, die mittlerweile einen großen Teil ihrer Teenagerzeit unter Masken verbracht haben, sagen auch sie: Machen wir uns keine Illusionen. Das bleibt. An dieser gefühlten Realität zu rütteln wird nach dem Ansturm auf Cafés, Kinos und Fußballstadien auch ein politischer Auftrag sein.

Rausgehen scheint plötzlich so anstrengend: Nach über einem Jahr haben sich viele Menschen soziale Kontakte und Feiern abgewöhnt.

Virusfreier Alltag

Neuseeland und Australien hatten 2020 Monate des besonders strengen Lockdowns, die Quarantänehotels waren voll. In den vergangenen Monaten hat sich ein beinahe virusfreier, die Europäer mit Neid erfüllender Alltag entwickelt. Australien entdeckt die bislang wenig genutzte Klappstuhl-und-Bistrotisch-Straßengastronomie für sich, am Strand lagern Familien, die Surfer sind längst wieder draußen in der Gischt. Der Soziologe Alan Petersen hat gerade zwar wieder drei Tage in seiner Wohnung in Melbourne verbringen müssen. Ein neuer Corona-Fall war bekannt geworden – daraufhin wurde der ganze Bundesstaat Victoria abgeriegelt. Aber dann konnte das Leben weitergehen. Ausgenommen die Auslandsflüge, die gerade sowieso niemand braucht. Petersen, der sonst regelmäßig zu Konferenzen nach Europa fliegt und Vorträge hält, hat es nicht eilig damit. Die Angst vor Krankheitserregern: auch so ein Grundgefühl, das nicht so schnell vergehen wird. Teil der australischen Mentalität sei überdies eine gewisse Fügsamkeit.

Petersen ist Professor an der Monash University in Melbourne. Er arbeitet gerade an einem Buch über die pandemische Gesellschaft. In seiner Wohnung hängen Wandbilder von indigenen Künstlern. Als privilegierter weißer Mann, der ohnehin viel am Schreibtisch sitze, sagt er, habe ihn die Umstellung nicht besonders hart getroffen. Er mache jetzt immerhin mehr Sport. Petersen hat festgestellt, dass die Normalität mit dem Ende der Einschränkungen in rasender Geschwindigkeit zurückkam. Und dass sich die frühen Bewertungen der Ereignisse in den Köpfen festgesetzt haben.

Anpassungsmechanismen und gesellschaftliche Entwicklungen, über die in den ersten Monaten der Pandemie spekuliert wurde, werden nun Realität. Der Wegzug der Menschen aus den Städten und der Boom auf dem Häusermarkt schreite voran, sagt Petersen. Die Digitalisierung mache bemerkenswerte Fortschritte. Überall werde mit Homeoffice geplant. Aktivitäten, denen man in Australien sozusagen vor der Haustür nachgehen kann, hätten zugenommen – die Menschen orientierten sich an ihrer nächsten Umgebung. Das Thomas-Theorem, eine der fundamentalen Annahmen der Soziologie, wonach die Situationen, die Menschen als wirklich definieren, in ihren Konsequenzen real sind, werde auch hier deutlich. Deshalb sei die Interpretation der sozialen Veränderungen nun besonders wichtig.

Ein ungutes Gefühl: In Australien und Neuseeland geht das Leben fast wieder den gewohnten Gang – mit Ausnahme von Auslandsflügen, die aber sowieso niemand machen will.

Vor einem Jahr hat Petersen das durch Populismus und allgemeine Verunsicherung erodierende Vertrauen in Autoritäten beschrieben. Die Menschen, bemerkte der Soziologe über seine Landsleute, hätten sich mit ihrem Privatleben eine Art Festung erarbeitet, in der sie sich vor den gesellschaftlichen Aufruhr-Momenten zurückziehen konnten. Nun beobachtet er in Australien aber auch einen gestiegenen Nachrichtenkonsum und eine neue Grundzufriedenheit mit den politischen Entscheidungen. Seine Theorie der pandemischen Gesellschaft knüpft an die Einschätzung europäischer Beobachter an, die Ausnahmesituation habe die großen Probleme der sozialen Ordnung an die Oberfläche der Debattenkultur gespült: Männer und Frauen, Nord und Süd, Rassismus, Klima, Emanzipation. Das Licht, das die pandemische Gesellschaft auf sie wirft, scheint gleißender. Es fällt auch in die Festungen hinein.

Am Anfang der Pandemie, als „das Thema Zukunft gerade explodierte“, wie Gina Strecker sagt, als alle in sich hineinschauten und wissen wollten, was sich an ihrem Leben dringend ändern sollte, unternahm die Berlinerin eine Befragung. Gemeinsam mit drei ehemaligen Kommilitoninnen untersuchte sie Corona-Lage und Zukunftswünsche von Frauen um die dreißig. Strecker ist hauptberuflich Unternehmensberaterin. Sie bezeichnet sich als introvertierte Person, die gern zu Hause ist. Als studierte Zukunftsforscherin glaubt sie daran, dass Träumen unentbehrlich ist und dabei hilft, sich auf die unvermeidlichen nächsten Verunsicherungen und Veränderungen vorzubereiten.

Was belastet uns?

Die Befragung „Futures Probes“ der Gruppe offenbarte eine Reihe von Belastungen junger, nicht unbedingt von existenziellen Nöten bedrohter Berlinerinnen: fehlende Sozialkontakte, die Informationsflut, Ängste um die berufliche Zukunft, Überforderung, Monotonie. Auf der Habenseite gaben die Frauen an, von neuen nachbarschaftlichen Kontakten zu profitieren, intensivere Verbindungen zuzulassen und sich von sozialem Druck befreit zu fühlen. Dann wurden sie aufgefordert, ihre Zukunftswünsche zu beschreiben. Entstanden sind Visionen junger Frauen für das Jahr 2040, die überraschend an unsere Anfangsszene erinnern. Die Gewohnheit der täglichen Spaziergänge ist darin geblieben. Die beschriebenen Frauen beginnen ihren Tag mit Achtsamkeitsübungen, nutzen technische Geräte nur noch sehr dosiert, bauen in ihrem Garten staatlich subventioniertes Gemüse an und arbeiten fünf Stunden am Tag. „Fomo“, die besonders unter Jüngeren verbreitete Angst, etwas zu verpassen („Fear of missing out“), ist ihnen fremd. Lieber ein Abend auf der Couch als zu viele oberflächliche Begegnungen.

Der Rückzug ins Häusliche, ein wohldosierter Konsum und eine gewisse Selbstgenügsamkeit: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch solche Anpassungen an die pandemische Zeit bestehen bleiben. Auf der das Projekt ergänzenden Instagram-Plattform wird in diesen Wochen schon der Wunsch formuliert, nie mehr zu verreisen, die Hoffnung auf unbegrenztes Homeoffice und geteiltes Landeigentum. Keine besonders freiheitlichen, wilden Ideen. Aber es sind auch nur Träume, keine Prognosen.

 

Auszug aus dem Buch "Die schönen Dinge siehst du nur, wenn du langsam gehst" von Haemin Sunim

Hör auf, dir Gedanken darüber zu machen, was andere denken. Tu einfach, was dein Herz dir sagt.
Füll deinen Geist nicht mit "was wäre, wenn...".
Mach dein Leben weniger kompliziert und gestehe dir deine Wünsche zu. Nur wenn du selbst glücklich bist, kannst du dazu beitragen, die Welt zu einem glücklicheren Ort zu machen. (S. 193)

 

Blendende Versprechen

FAZ vom 27.05.2021, von Heike Göbel

Die Wähler sollten auf die Schuldenbremse pochen. Sie zwingt den Staat zur Modernisierung.

Krisen verändern die Prioritäten. In der Pandemie hat der deutsche Sozialstaat gut funktioniert, während die öffentliche digitale Infrastruktur mangelhaft war. Das gilt nicht nur dort, wo Funklöcher und schwache Netze reibungslosen Wechsel ins Homeoffice verhinderten. Als wahre Achillesferse erwies sich die fehlende Digitalisierung der Schulen und wichtiger Behörden. Was es heißt, wenn der Staat zentrale Aufgaben nicht mehr angemessen erfüllen kann, hat seit Ausbruch des Virus fast jeder auf die eine oder andere Weise negativ zu spüren bekommen.

Kein Wunder, dass dieses lange bekannte Versäumnis im Wahljahr mit neuer Dringlichkeit thematisiert wird. Der Staat soll aber nicht bloß seinen fühlbar gewordenen digitalen Rückstand aufholen, sondern auch die grüne Transformation des Landes schnellstens herbeifinanzieren. Geschickt haben Klimaaktivisten die Brücke vom tödlichen Virus zu den Klimarisiken geschlagen. Keine Partei, die im Herbst regieren will, kann es sich noch leisten, auf die Unterschiede in Dynamik und Komplexität dieser großen Herausforderungen hinzuweisen – zumal nun auch das Bundesverfassungsgericht klimapolitisch Druck macht.

Die Grünen wollen „unser Wirtschafts- und Finanzsystem neu eichen“, ihre Investitionsoffensive sieht bis 2030 jährlich sogar 50 Milliarden Euro „zusätzlich“ vor. Die FDP bietet im selben Zeitraum ein Investitionspaket von 600 Milliarden Euro. Der von der Union erwogene Deutschland-Fonds dürfte ähnlich dimensioniert sein. Immerhin soll der Staat bei FDP und Union das Geld nicht allein aufbringen, man will private Investoren ins Boot holen.

Die Summen erstaunen angesichts der hohen Defizite: Die Staatsverschuldung ist durch die Corona-Hilfen sprunghaft gestiegen. Betrugen die Schulden vor der Krise unter 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, liegt die Quote nun mit 75 Prozent schon in Sichtweite der 82 Prozent nach der Bankenkrise 2009. Damals antwortete die Politik übrigens mit Einführung jener strikten Schuldenbremse im Grundgesetz, der Deutschland seine komfortable Finanzlage vor Corona verdankte und damit die aktuelle Feuerkraft. Dennoch sollen die Wähler nun überzeugt werden, dass nach der Krise das gegenteilige Rezept richtig ist.

Statt Staatsausgaben und Schulden zügig zu normalisieren, kündigen nicht nur linke Parteien ihre Modernisierungspakete an, ohne Abstriche an alten Prioritäten zu machen: dem Ausbau der sozialen Sicherung. Der Staat soll selbstverständlich Pflegeengpässe lösen, Wohnraum schaffen und die Grundsicherung aufbessern. Auch die Union predigt nicht Verzicht. Ihr Programm steht noch aus, aber führende Köpfe werben für den steuerfinanzierten Ausbau der Pflegeversicherung und mehr Mütterrente.

Während die Union herumeiert, wie sich ihre Pläne nach der Pandemie-Ausnahmelage mit der Schuldenbremse vereinbaren lassen, und auch die FDP nicht recht erklären kann, wie sie Investitionen und Steuersenkungen verfassungskonform aufbringen will, wollen SPD, Grüne und Linke die lästige Fessel lockern, entweder durch eine Verfassungsänderung oder trickreiches Verlagern der Investitionsmilliarden in Sondertöpfe. Sie argumentieren, zum Niedrigstzins aufgenommene neue Kredite rechneten sich von selbst durch das mit ihnen beflügelte Wirtschaftswachstum.

Das Kalkül geht nur auf, wenn das Zinsumfeld günstig bleibt und die Kredite effizient investiert werden. Das Erste ist eine Wette. Das Zweite scheitert zu oft daran, dass sich Regierungen überschätzen und industriepolitisch motiviert Milliarden versenken – in Unternehmen, die keinen Markterfolg haben. Die Erfüllung staatlicher Kernaufgaben wiederum – Ausbau der Verkehrsnetze, Digitalisierung von Behörden und Schulen – scheitert nicht zuerst am Geld. Europaweite Ausschreibungen, föderale Blockaden, hohe Umwelt- oder Datenschutzansprüche sorgen für überlange Planverfahren und Investitionsstaus.

Das Investitionsbudget des Staates sei ein neuer „Fetisch“, kein Qualitätskriterium für die Finanzpolitik, warnt der frühere Chef der „Wirtschaftsweisen“ Rürup. Zu Recht: Die Wähler sollten sich von den Zahlen nicht blenden lassen und auf die Schuldenbremse pochen. Sie zwingt den Staat auf allen Ebenen, sich mit einer echten Modernisierung von Verfahren und Regeln zu befassen und damit endlich zur wahren Ursache vieler Rückstände vorzudringen.

Die Rente sprengt den Haushalt

Ohne Reformen müsste bald die Hälfte des Etats in die Rentenkasse fließen. Gutachter des Wirtschaftsministeriums warnen – und liefern unkonventionelle Ideen.

FAZ vom 07.06.2021 von Dietrich Creutzburg, Berlin

Die gesetzliche Rente in Deutschland steuert auf ein ernstes Finanzierungsproblem zu: Würde man die derzeit geltenden Garantien für Ruheständler und Beitragszahler fortführen, geriete der Bundeshaushalt spätestens in den 2040er-Jahren in akute Schieflage – der Bundesfinanzminister müsste dann etwa die Hälfte seines gesamten Etats an die Rentenversicherung überweisen, damit die Senioren weiter pünktlich Geld erhalten. Zu diesem Ergebnis kommt der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium in einem noch unveröffentlichten Gutachten, welches der F.A.Z. vorab vorliegt.

„Das würde den Bundeshaushalt sprengen und wäre auch mit massiven Steuererhöhungen nicht finanzierbar“, warnt der Vorsitzende des Beirats, Ökonomieprofessor Klaus M. Schmidt von der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Die jüngere Generation muss wissen, mit welcher gesetzlichen Rente sie in Zukunft rechnen kann.“ Im Jahr 2019 flossen dem Gutachten zufolge 26 Prozent des Bundeshaushalts als direkte Steuerzuschüsse an die Rentenkasse. „Dieser Anteil müsste bis 2040 auf über 44 Prozent und bis 2060 auf über 55 Prozent ansteigen.“ Die Federführung der Expertise hatte Axel Börsch-Supan vom Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik.

Das soll beschlossen werden

Die genannten Werte würden sich einstellen, falls die von der Regierungskoalition aus Union und SPD vorerst bis 2025 festgelegten „Haltelinien“ verlängert würden. Sie geben vor, dass der Rentenbeitragssatz nicht über 20 Prozent des Bruttolohns steigen darf. Zudem darf das sogenannte Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken; es setzt Renten von Durchschnittsverdienern ins Verhältnis zum Durchschnittslohn. Reicht der Höchstbeitragssatz nicht aus, um dieses Rentenniveau zu finanzieren, muss der Bundeshaushalt mit Steuermitteln einspringen.

Das Gutachten hat hohe politische Aktualität, weil in der kommenden Wahlperiode entschieden werden muss, was nach 2025 gelten soll – und dies auch schon im aktuellen Wahlkampf eine Rolle spielen dürfte. In der Regierungskoalition hatte sich 2018 vor allem Finanzminister Olaf Scholz (SPD) dafür eingesetzt, die neuen Haltelinien gleich bis 2040 festzuschreiben. Sie ändern auch die Lastenverteilung zwischen den Generationen: Zuvor galt, dass steigende Rentnerzahlen den jährlichen Rentenanstieg bremsen, um Beitrags- und Steuerzahler nicht zu überfordern. Die Untergrenze für das Rentenniveau hebelt diesen Mechanismus aus.

Das Problem an den „Haltelinien“

Der Ökonomen-Beirat zweifelt nun sogar an, ob es überhaupt möglich wäre, die bisherigen Haltelinien fortzuführen: Empirische Steuerforschung zeige, „dass das Potential für Einnahmesteigerungen unter plausiblen Annahmen nicht ausreichen würde, um die zur Defizitdeckung nötigen zusätzlichen Bundesmittel durch eine Erhöhung der Einkommensbesteuerung zu finanzieren“, so sein Gutachten.

Konkret schätzt der Beirat, dass sich die Einnahmen aus Lohn- und Einkommensteuern äußerstenfalls um 50 Milliarden Euro im Jahr steigern ließen – jenseits davon würden höhere Steuersätze die Wirtschaft so stark lähmen, dass sich der Effekt ins Gegenteil verkehrt. Eine Fortführung der bestehenden Renten-Haltelinien erfordere aber zusätzliche Steuerzuschüsse von bis zu 83 Milliarden Euro im Jahr 2045 und bis zu 109 Milliarden Euro im Jahr 2060. „Der Beirat rät daher davon ab, in der politischen Diskussion die Illusion von langfristig gesicherten Haltelinien weiter aufrechtzuerhalten“, schreibt er.

Wie die Rente gesichert werden könnte

Um eine nachhaltige Finanzierung der Rente zu erreichen, stellt der Beirat mehrere Reformansätze zur Debatte. Unumgänglich sei, das Renteneintrittsalter von 2031 an der allgemeinen Lebenserwartung folgen zu lassen. Bis dahin steigt die Grenze, wie 2007 beschlossen, schrittweise auf 67 Jahre. Danach, so die Empfehlung, solle die „2:1-Regel“ gelten: Wächst die Lebenserwartung um ein Jahr, steigt die Grenze um 8 Monate. Auf Basis heutiger Prognosen sei so mit einem Anstieg auf 68 Jahre bis 2042 zu rechnen. Bei sinkender Lebenserwartung könne die Grenze aber auch sinken, so das Gutachten.

Dies allein reiche jedoch nicht, um das System zu stabilisieren. Der Beirat stellt daher weitere Reformoptionen vor – darunter als besonders markanter Vorschlag ein „Degressiv-Modell“: Je mehr Lohn ein Arbeitnehmer erzielt, desto weniger zusätzliche Rente bekäme er künftig für jeden weiteren Euro an Beitragszahlung gutgeschrieben. Wer 50 Prozent mehr Lohn bezieht als ein Kollege und 50 Prozent mehr Beiträge zahlt, bekäme zum Beispiel nur noch 40 Prozent mehr Rente.

Denkbar sei auch eine Variante, in der weiter Haltelinien greifen – aber nur noch für einen Sockelbetrag der Rente. Für höhere Renten dagegen würde der Lastenausgleich zwischen den Generationen wieder in Kraft gesetzt. „Dies führt zu einer relativen Aufwertung geringer gegenüber höheren Renten und wirkt sich somit auch als Verringerung der Altersarmutsgefährdung aus.“ Der Beirat formuliert dies ausdrücklich nicht als Forderung, sondern als Diskussionsbeitrag. Er dränge aber dazu, „diese Diskussion im politischen Prozess bald zu führen“.

Im März 2020 hatte auch eine von der Regierung eigens eingesetzte Rentenkommission Reformvorschläge vorgelegt. Sie sehen für das System der Haltelinien nur kleinere Modifikationen durch sogenannte Korridore vor, ohne das Risiko für den Bundeshaushalt zu begrenzen: Der Beitragssatz sollte demnach künftig zwischen 20 und 24 Prozent liegen, das Sicherungsniveau zwischen 44 und 49 Prozent. Börsch-Supan, der auch in die Kommission berufen worden war, gab sein Mandat damals aus Protest vorzeitig zurück: Die Runde habe sich vor unbequemen Fakten gedrückt – und damit vor Lösungen, die der jüngeren Generation neues Vertrauen vermitteln könnten.

 

Das Versprechen

Eine der großen Zusagen der Sozialen Marktwirtschaft ist finanzielle Sicherheit im Alter. Was ist sie noch wert?
FAZ vom 12.06.2021, Die Lounge, von Heike Göbel

Mit einem Paukenschlag haben renommierte Ökonomen diese Woche die unsichere Zukunft der gesetzlichen Renten in den Blick gerückt. Zum Ärger der Wahlkämpfer von Union und SPD, die das Thema meiden, zeigen die Prognosen des unabhängigen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, dass die Alterssicherung in einen „Finanzierungsschock“ läuft, wenn die Politik nicht endlich reagiert: Schon gegen Ende des Jahrzehnts können die erworbenen Rentenansprüche nur durch stark steigende Beiträge oder weit höhere Steuerzuschüsse erfüllt werden. In den dreißiger Jahren wird mit der Verrentung der Babyboomer eine Spitzenbelastung erreicht. Gestützt auf solide und eher vorsichtige Szenarien zur Entwicklung der Bevölkerung, zur Produktivität der Wirtschaft und zur Erwerbstätigkeit unterhalten dann zwei Jüngere einen Rentner. Das Verhältnis bessert sich bis 2060 kaum, da die durchschnittliche Lebenserwartung bis dahin voraussichtlich um erfreuliche weitere fünf Jahre klettert, die Renten also länger gezahlt werden müssen.

Während die schwarz-rote Bundesregierung solch lange Prognosezeiträume für den Klimaschutz mittlerweile selbstverständlich in den Blick nimmt und handelt, auch weil (jüngere) Wähler dies vehement einfordern, leistet sie sich in der Alterssicherung eine beharrliche Kurzsichtigkeit, die den Erkenntnissen Hohn spricht. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) warf den Wissenschaftlern „abstrakte theoretische Debatten“ und falsche Berechnungen vor. Doch die für die Tragfähigkeit der Rentenfinanzen wichtige Bevölkerungsentwicklung lässt sich recht verlässlich über lange Zeiträume prognostizieren, und sie ist politisch kaum beeinflussbar. Dass die deutsche Alterspyramide zunehmend kopfsteht, ist unter realistischen Annahmen weder durch Familienförderung noch durch Zuwanderung zu ändern.

Frühere Bundesregierungen waren weitsichtiger

Vorausschauende Rentenpolitik müsste sich zumindest darauf vorbereiten, dass die Finanzierung der gesetzlichen Renten – der wichtigsten Säule des deutschen Alterssicherungssystems – von (zu) schmal besetzten Jahrgängen aufgebracht werden muss. Schon jetzt, kurz vor der Verrentung der Babyboomer, fließen monatlich 18,6 Prozent der Bruttolöhne (bis zu einer Obergrenze) in die Rentenkasse und von da im „Umlageverfahren“ sofort weiter an 21 Millionen Rentner. Eine Sparreserve kennt das System nicht. Die Beiträge decken die jährlich zuletzt rund 340 Milliarden Euro Rentenausgaben nicht, mehr als ein Viertel übernehmen die Steuerzahler. Was auf sie zukommen könnte, haben die Ökonomen vorgerechnet: Bei Fortschreibung heutiger Leistungen und Versprechen müssten 2040 schon 44 Prozent der Bundesausgaben in die Rentenkasse fließen, bislang sind es 26 Prozent. Bis 2060 wären dann mehr als die Hälfte der Bundesausgaben für die Rente gebunden. Wollte man die zusätzlichen Ausgaben allein aus Steuern finanzieren, müsste die Mehrwertsteuer von 19 auf 32 Prozent steigen.

Das illustriert den Reformbedarf. Maßgeblich mitverursacht haben ihn die letzten schwarz-roten Koalitionen. Verführt durch gute Konjunktur und Beschäftigung, haben sie die vorübergehend entspannte Finanzlage in der Rente genutzt, um wichtige kostendämpfende Maßnahmen zum Schutz der nachfolgenden Generationen auszuhebeln und neue Leistungsansprüche und Garantien zu gewähren. Die temporären Frühverrentungsprogramme, der Nachteilsausgleich für ältere Mütter, die Grundrente für Geringverdiener und eine höhere „Haltelinie“ für das Rentenniveau von 48 statt 43 Prozent sind nur die teuersten Änderungen.

Inzwischen ist die Rente mit 67 weithin akzeptiert. Doch zeigt das neue Gutachten: Auch der Ruhestand mit 67 ist künftig zu früh, 68 und mehr könnten nötig sein. Jedenfalls bedarf es zusätzlicher großer Reformanstrengungen, um das Sozialstaatsversprechen einer „sicheren“ Rente in den kommenden Jahrzehnten noch einigermaßen werthaltig einzulösen. Denn Blüms Versprechen ist ebenso schlitzohrig wie die heutige wolkige Zusage „solider“ Renten, mit der das von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil geführte Ministerium wirbt. Mit ihren Beiträgen vom Lohn erwerben die gesetzlich Versicherten nur Punkte für Rente – je länger sie eingezahlt und je mehr sie gearbeitet haben, desto mehr Punkte. Was die Punkte im Alter wert sind, hängt aber davon ab, was die Jüngeren dann leisten können und wollen.

Bessere Wege als „Riester“ sind denkbar

Die vielen Korrekturen an der 1957 eingeführten gesetzlichen Rente sind Ausdruck eines Ringens um die Balance zwischen den Generationen. Sie ist zuletzt zu stark zu Lasten der Jüngeren verschoben worden. An einer als fair empfundenen Balance hängt die Akzeptanz der gesetzlichen Rente und die Akzeptanz der in hohem Maß auf Eigenverantwortung und Wettbewerb basierenden Sozialen Marktwirtschaft. Sie bezieht ihre Legitimation aus dem Wohlstandsversprechen für alle (Serienteil 11, F.A.Z. vom 9. Juni). Der Einsatz der Jüngeren darf nicht im Übermaß von den Rentnern aufgezehrt werden. Aber was steht den Alten mindestens zu? Bekommt die Mehrheit selbst nach einem vollen Arbeitsleben aus dem gesetzlichen Pflichtsystem nur eine Magerrente knapp oberhalb der steuerfinanzierten Sozialhilfe, die auch jene erhalten, die nie gearbeitet haben, stehen Renten- und Wirtschaftssystem in Frage.

Abstriche am Rentenversprechen gibt es längst, die Verfassung lässt breiten Raum. Sicherte die gesetzliche Rente einst den Lebensstandard und volle Teilhabe am Wohlstandszuwachs, muss dafür nun ergänzend privat oder betrieblich gespart werden. Die gesetzliche Rente soll nun nur noch die im Arbeitsleben erworbene relative soziale Position wahren. Selbst dieses Versprechen könnte ins Rutschen geraten. Nach Ansicht der Rentengutachter reicht das Hinausschieben des Regelalters für die Rente auf 68 oder mehr nicht aus. Weitere Einsparungen könnten dann durch Umverteilung von höheren zu niedrigeren Renten eines Jahrgangs erzielt werden, das Sozialgefüge würde eingeebnet. Das klingt gefährlich nach leistungsfeindlicher Einheitsrente. Alternativ könnte die Teilhabe am Wohlstandszuwachs weiter eingeschränkt werden durch bloßen Inflationsausgleich der Rente mit der Folge höherer Altersarmut.

Soll es so weit nicht kommen, dürfen Wahlkämpfer nicht versprechen, was nicht zu halten ist. Die nächste Regierung muss Handlungsspielraum haben. Die Rente mit 68 mag Wahlkampfgift sein, sie ist aber gut vereinbar mit den Prinzipien des Systems. Zusätzlich sollte die gesetzliche Rente durch kapitalgedeckte Elemente gestärkt werden, auch das ist einer Marktwirtschaft gemäß. Bessere Wege als „Riester“ sind denkbar, ein Blick in die Niederlande könnte lohnen. Aber Rentensysteme sind historisch gewachsen und schwer vergleichbar, jedes Land muss seinen Mix finden, ein Ideal, das für alle passt, gibt es nicht. Der gesetzlichen Rente verdankt Deutschland bisher relativ geringe Altersarmut, mit ihren Leistungen für die Mitte schneidet sie weniger gut ab. Das erklärt auch den wachsenden Unmut über die Beamtenversorgung, die höhere Teile des letzten Einkommens ersetzt als die Rente. Auch darauf muss die Politik Antworten finden.